Die Pause ist zu Ende. Wir haben Deutsch bei Frau Müller. Die ganze Klasse sitzt schon, als sie kurz nach dem dritten Gong durch die Tür kommt. Müde nuscheln wir ein “Gu- ten Tag, Frau Mül-ler”, bevor sie schwungvoll ihre braune Ledermappe auf dem Lehrertisch abstellt, die Metallverschlüsse aufschnappen lässt und einen Stapel Papier herausholt.
“Für mich ist es auch die sechste Stunde. Eure Laune wird hoffentlich gleich besser, ich habe die Klassenarbeiten dabei. Sie sind gut ausgefallen.”
Meine Sitznachbarin, die eben noch lustlos ihren Kopf mit der rechten Hand abgestützt hatte, richtet sich auf. Die meisten meiner Mitschüler sitzen plötzlich kerzengerade.
“Was ist der Schnitt?”, ruft die Klassensprecherin links hinter mir.
“Immer mit der Ruhe. Bevor ich euch die Arbeiten zurückgebe, möchte ich euch einen Aufsatz vorlesen. So was ist mir in achtzehn Berufsjahren noch nicht untergekommen.”
Das kann nichts Gutes heißen. Frau Müller nimmt die ersten vier Blätter vom Stapel, legt sie an die rechte vordere Ecke ihres Tisches, führt den linken Zeigefinger zum Mund, befeuchtet ihn und nimmt das oberste Blatt in beide Hände. Niemand wagt es, zu sprechen, geschweige denn, zu flüstern. Meine Sitznachbarin atmet tief ein und nicht mehr aus. Die Luft ist stickig. Es riecht nach alten Staub, der auf den Heizkörpern liegt und in den Vorhängen sitzt. Ich spüre, wie mein Herz Blut in jede Ader meines Körpers pumpt, in immer schnellerem Takt, bis in meine Ohren. In meinem Kopf sind nur drei Worte. “Bitte – nicht – meiner. Bitte nicht meiner. Bittenichtmeiner.”
Frau Müller beginnt, zu lesen. Nach zwei Worten weiß ich, dass es mein Aufsatz ist. Meine Sitznachbarin presst die angehaltene Luft durch die Nase heraus. Frau Müller liest, als hätte sie den Aufsatz selbst geschrieben. Betont jeden Satz an der richtigen Stelle. Ich kann jedes Komma, jeden Punkt hören. Ich weiß, warum sie meinen Aufsatz ausgesucht hat. Die gefürchtete “Sechs – Thema verfehlt”, war für mich bisher nur eine Anekdote – wie ein Unglück, von dem man in den Nachrichten hört, das immer nur anderen passiert und nicht einem selbst. Aber ich habe diese Sechs herausgefordert. Die Erinnerung kommt Wort für Wort zurück.
Drei Wochen ist die Klassenarbeit inzwischen her. Es war der Donnerstag vor den Ferien. Aufgabe war eine Erörterung zu Goethes Faust, Der Tragödie Erster Teil: Inwiefern können Faust als starke und Gretchen als schwache Figur charakterisiert werden? Zumindest ist das die Frage, an die ich mich erinnere. Ich weiß noch, welch eine Wut diese Frage in mir auslöste. Mann – stark, Frau – schwach. Was sonst ist zu erwarten von einem Autor, der seit fast zweihundert Jahren tot ist?
Nein. Das war zuerst das einzige Wort, das ich denken konnte, als ich die Frage las. Doch plötzlich kam die Antwort wie von selbst, als wäre mein Füller nicht mit Tinte, sondern mit meinen Gedanken gefüllt. Geschöpft aus der Wut über ein Frauenbild, das längst überholt sein sollte, aber mit der unkritischen Lektüre unserer deutschen Dichter und Denker in den Köpfen überforderter Teenager jedes Jahr reproduziert wird: mit ein bisschen Schmuck kriegt man jede Frau ‘rum und einzig Wahnsinn oder Schwäche können erklären, warum sie am Ende nicht in die Kutsche steigen und dem Sonnenuntergang entgegen fahren will.
Dabei ist Faust derjenige, der aus Langeweile einen Pakt mit dem Teufel schließt, ohne über die Konsequenzen nachzudenken. Der trotz seiner Gelehrtheit und wider besseren Wissens einem viel zu jungen Mädchen nachstellt und Gretchens Welt schließlich mutwillig zerstört. Der zum Mörder wird, am Ende Reißaus nimmt, sein geliebtes Gretchen ihrem Schicksal überlässt und jede Schuld bei Mephisto sucht. Wie kann Gretchen ihm gewachsen sein? Eine Vierzehnjährige, die nichts hat außer ihrer Familie und ihren Glauben. Faust wird zu ihrer größten Schwäche. Trotz anfänglicher Zweifel lässt sie sich auf ihn ein, in der Hoffnung, die einfachen Verhältnisse, in denen sie aufgewachsen ist, hinter sich lassen zu können. Für Faust tötet sie die eigene Mutter und ihr neugeborenes Kind. Trotzdem ist sie es, die stark genug ist, um als Mephistos Gegenspielerin zu wirken. Sie erkennt instinktiv Mephistos wahre Natur und gelangt durch das Unglück, in das sie sich aus Liebe zu Faust gestürzt hat, von einer dogmatischen Frömmigkeit hin zu einem fundierten Glauben. Dieser Glaube ermöglicht es ihr am Ende, einen Ausweg aus ihrem Wahnsinn zu finden, ihre Sünden zu bereuen und im Gegensatz zu Faust die Schuld für ihre Taten einzugestehen. Sie besitzt die Stärke, die Faust fehlt: den Teufel in Mephisto zu erkennen, ihm zu widersagen und sich dem Gericht Gottes zu übergeben. Dadurch wird sie gerettet, während Faust für einen weiteren Teil Mephistos Spielball bleiben wird.
Frau Müller hat aufgehört, zu lesen. Sie blickt auf, legt das letzte Blatt ab, ordnet es in den kleinen Stapel ein und blickt fragend in den Raum.
“Was sagt ihr dazu?”
Hinter mir beginnt jemand, zu klatschen. Ich starre auf meine vier Blätter. Das Klatschen wird immer lauter und schließt mich ein, wie ein Ring aus Geräusch. Jetzt applaudiert auch Frau Müller und sieht mich an. Mein Kopf ist heiß, meine Ohren brennen. Mein Herzschlag und der Applaus vermischen sich. Ich dachte, mein Aufsatz sollte als abschreckendes Beispiel dienen, wie weit man am Thema vorbei schreiben kann. Bleibt mein Herz stehen, wenn der Applaus aufhört?
“Ich denke, es reicht”, sagt Frau Müller und es wird wieder still.
Mein Herz schlägt weiter.
“Ich habe euch Sarahs Aufsatz vorgelesen, weil sie den Erwartungshorizont nicht erfüllt hat.”
Also doch.
“Du hast ihn übertroffen”, nickt sie mir zu, nimmt die vier Blatt Papier in die rechte Hand, kommt zwei Schritte auf mich zu und legt mir die Arbeit auf den Tisch. Ich blättere so schnell wie möglich auf die letzte Seite. “Rechtschr./Grammatik: 1+. Ausdruck: 1+. Gesamt: 1+.” Darunter steht in großen Schwüngen in Rot geschrieben: “Sarah, du musst schreiben!”